Familienfoto, Bochum 1953. Ute Baur-Timmerbrink mit Mutter und Stiefvater
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Familienforschung
Die Sehnsucht nach Klarheit
Immer wieder fragte der Vater die Mutter inquisitorisch: Was hast du damals in Österreich gemacht? Erst mit 52 Jahren erfuhr chrismon-Leserin Ute Baur-Timmerbrink die Antwort. Heute hilft sie anderen bei der Recherche
20.04.2024
6Min

Bis heute ist es ein immer noch weitgehend unbekanntes Kapitel der Nachkriegsgeschichte, dass in den Jahren nach 1945 hunderttausende Kinder geboren wurden, deren Väter Soldaten der alliierten Besatzungsmächte waren. Nach Schätzung von Wissenschaftlern sind es mindestens 250.000 Kinder.

Viele dieser Besatzungskinder haben ihren Vater aus USA und Großbritannien, Frankreich oder Russland nie kennengelernt, weil die Mütter darüber nicht sprechen wollten oder konnten.

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Ute Baur-Timmerbrink

Ute Baur-Timmerbrink, 1946 geboren, hat uns Ihre Familiengeschichte anvertraut. Sie arbeitet ehrenamtlich für die englische Hilfsorganisation GI Trace (GI Transatlantik Children Enterprises) und recherchiert im Auftrag von Kindern von früheren US-Soldaten den Verbleib der Väter. 2015 erschien ihr Buch "Wir Besatzungskinder. Töchter und Söhne alliierter Soldaten erzählen" (Christoph Links Verlag).

Die Kinder der Afro-Amerikanischen Soldaten wussten meistens aufgrund ihrer Hautfarbe sehr früh, dass sie einen US-Vater hatten, bei den vielen anderen Kindern konnte man es lange Zeit verheimlichen. So auch bei mir.

Ich wurde 1946 in Oberösterreich geboren. Meine Mutter und jener Mann, von dem ich immer geglaubt hatte, er sei mein leiblicher Vater, haben 1936 geheiratet. Mein Stiefvater, den ich erst heute so nenne, war Berufssoldat in der deutschen Reichswehr. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 lebten sie in Wien. Meine Mutter flüchtete im Dezember 1944 aus Angst vor " den Russen" nach Oberösterreich. Sie gab ihren Ehemann in meiner Geburtsurkunde als meinen Vater an, obwohl er als vermisst galt. Das war legitim.

Ende 1947 zogen wir nach Nordrhein-Westfalen zu Verwandten, und ihr Ehemann folgte 1948 nach seiner Entlassung aus jugoslawischer Kriegsgefangenschaft.

Dieser Text ist Teil einer Serie von Familiengeheimnissen, in der wir auch Zuschriften von Leserinnen und Lesern veröffentlichen. Lesen Sie hier weiter!

In meinen frühesten Erinnerungen war es in meinem gutbürgerlichen Zuhause so ganz anders als in anderen Familien. Als Einzelkind war ich mir selbst überlassen und habe mich unsicher und einsam gefühlt. Zwischen meinen Eltern gab es in den ersten Jahren häufig Streit, und mein Stiefvater machte meiner Mutter Vorwürfe. Ein Satz prägte sich mir besonders ein: "Und was hast du in Österreich gemacht?" Dieser Satz hat mich beschäftigt und nachdenklich gemacht, eine Erklärung bekam ich trotz Nachfragen nicht.

Die gemeinsam verlebten jährlichen Sommerferien in Österreich an meinem Geburtsort Vöcklabruck waren das Schönste in meiner Kindheit. Und dass die damalige Freundin meiner Mutter in Vöcklabruck meine Lieblingstante wurde. Sie hatte angeblich meinen Vornamen Ute bestimmt.

Meine Eltern hatten häufig Gäste, Kriegskameraden und Freunde aus der Vergangenheit. Ich habe deren Gesprächen bis tief in der Nacht gelauscht und wurde gar nicht wahrgenommen. Vieles hat mir Angst gemacht, wenn über Flucht und Kriegserlebnisse gesprochen wurde.

In meiner Erinnerung distanzierte sich die väterliche Familie deutlich von meiner Mutter und mir - was ich spürte, aber nicht einordnen konnte.

Ute mit zweieinhalb Jahren im Mai 1948

Meine Eltern starben 1974 und 1982. Beide haben nie mit mir über meine wahre Herkunft gesprochen. Mit den Jahren verstärkte sich mein Verdacht, dass mein Vater nicht mein leiblicher Vater gewesen war. Ich versuchte, solche Gedanken zu verdrängen, aber es quälte mich von Jahr zu Jahr immer mehr.

An meinem 52. Geburtstag 1998 habe ich die Wahrheit von einer Freundin, deren Mutter mit meiner Mutter eng befreundet war, erfahren. Sie hatte schon lange versucht, meinen Fragen nach "Früher" auszuweichen, jetzt wollte sie nicht mehr. Sie sagte: "Alle wussten es und haben es mit ins Grab genommen, ich kann es nicht!"

Tagelang war ich in einem Schockzustand, aber ich fühlte auch eine Art Befreiung, weil ich mit meinen Vermutungen den Eltern kein Unrecht getan habe. Es war allein eine grenzenlose Traurigkeit in mir, aber keine Wut über das Schweigen der Eltern.

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Ich war entschlossen, alles daran zu setzen, um meinen Vater zu finden. Es gab noch einen Menschen, der alles wissen musste: meine Lieblingstante in Österreich, mit der ich in regelmäßigem Kontakt stand. Den amerikanischen Vater bestätigte sie wütend mit den Worten "Das solltest du nie erfahren!" Weitere Hilfe lehnte sie ab mit der Begründung, sie könne sich an die Zeit nicht mehr erinnern. Das glaubte ich ihr nicht, denn sie war gesund und damals erst 72 Jahre alt.

Als nächsten Schritt bin ich nach Österreich gefahren und und habe versucht, Zeitzeugen zu finden. In meinem Geburtsort Vöcklabruck waren die Mitarbeitenden in den Gemeindeämtern sehr hilfsbereit. Einige ältere Bewohner im Ort erkannten meine Mutter auf Fotos und gaben mir wertvolle Hinweise. Später lernte ich österreichische Militärhistoriker kennen, die mir weiterhelfen konnten. Im Herbst 2002 habe ich schließlich meinen Vater in North Carolina gefunden und hatte Briefkontakt mit ihm. Persönlich treffen konnte ich ihn nicht mehr, weil er kurz vor meinem geplanten Besuch mit 87 Jahren gestorben ist. Er hatte keine Kinder, und somit habe ich keine Halbgeschwister in den USA.

Normandie 1943 bis 1945: Schätzungsweise 22.000 Besatzungskinder geboren

Während meiner Recherchen bin ich auf die Zeitung "Stars and Stripes" der US-Army aufmerksam geworden. Darin las ich einen Artikel über die englische Hilfsorganisation GI Trace (GI Transatlantik Children Enterprises). Sie wurde 1985 gegründet und unterstützt britische GI Kinder bei der Suche nach ihren US-Vätern.

US-Truppen waren seit 1942 im Süden Englands stationiert - im Vorfeld der Invasion in der Normandie. Auch dort gab es Liebesbeziehungen zwischen den Soldaten und einheimischen Frauen. Zwischen 1943 und 1945 wurden dort schätzungsweise 22.000 Kinder von US-Soldaten geboren.

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Nach meinem ersten Brief an GI Trace war die Antwort voller Mitgefühl und Verständnis für meine Situation. Es folgte kurze Zeit später eine Einladung zum Get-Together der englischen GI Kinder nach Southampton. Dort war ich zum ersten Mal mit Menschen zusammen, die das gleiche Schicksal hatten. In Deutschland war mir der Begriff "Besatzungskind" fremd gewesen und ich kannte niemanden von den Betroffenen. Ich wurde gefragt, ob ich für den deutschsprachigen Raum mitarbeiten würde, und habe spontan zugestimmt. Auch aus Dankbarkeit gegenüber den vielen Menschen, die mich bei meiner eigenen Suche unentgeltlich unterstützt haben.

Seit 2003 bin ich ehrenamtlich für GI Trace tätig und habe im Laufe der Jahre Hunderte Familienzusammenführungen in Deutschland und Österreich begleitet.

Meine eigenen Erfahrungen haben geholfen, Menschen mit den unterschiedlichsten Biografien zu verstehen, weil wir alle eine Sehnsucht nach der Wahrheit über unsere Herkunft haben. Wir suchen nach Antworten für das Schweigen unserer Mütter. Heute wissen wir mehr darüber, auch weil einige Mütter mehr Verständnis für ihre Kinder gezeigt haben. Das Thema Besatzungskinder hat die breitere Öffentlichkeit erreicht.

Die Universitäten Leipzig und Greifswald initiierten 2012 ein Projekt, um die Besatzungskinder und deren Erfahrungen erstmals aus psychosozialer Perspektive zu untersuchen. Die Universität Graz/Österreich schloss sich 2014 dem Projekt an. Ein weiterer Studienaufruf erfolgte 2013. Im Vergleich zu der gleichaltrigen Bevölkerung zeigte sich eine deutlich stärkere psychosoziale Belastung der Besatzungskinder.

Ich werde immer noch um Rat gefragt. Jetzt ist es vermehrt die Enkelgeneration, die entweder für Mutter oder Vater sucht, oder sie suchen auch nach deren Tod, weil sie erlebt haben, wie sehr sich die Eltern nach der Wahrheit gesehnt haben.

Wer sich entschließt, nach dem Vater zu suchen, macht den ersten Schritt zur Bewältigung der jahrelangen seelischen Last. In solchen Phasen setzen sich viele Besatzungskinder auch immer wieder mit ihren Selbstzweifeln auseinander. Warum will ich das überhaupt? Was soll anders werden, wenn ich die Wahrheit kenne? Höre ich dann endlich auf, immer an Vergangenes zu denken? Wird sich dadurch mein Leben verbessern? Am Ende steht immer die Antwort: Ich möchte endlich ruhiger werden. Und wenn man bereit ist, die Suche zu beenden, müssen Gegenwart und Zukunft wieder Priorität bekommen. Diese meine Erfahrung, gebe ich an die Suchenden immer weiter.

Mit Hilfe einer DNA ist es seit einigen Jahren möglich, Väter ohne nähere Angaben zu finden. Die Erfolge sprechen für sich, vor allem in den USA und Großbritannien, denn bisher war es in vielen Archiven zwingend notwendig, den Namen des Vaters zu wissen.

Im Frühjahr 2015 erschien mein Buch "Wir Besatzungskinder. Töchter und Söhne alliierter Soldaten erzählen" (Christoph Links Verlag). Anhand von zwölf Porträts schreibe ich über das schwierige Leben und die große Sehnsucht nach der Wahrheit von Besatzungskindern nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Österreich.

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